Der 100. Jahrestag des Endes des ersten Weltkrieges, der in einem bis dato nicht für möglich gehaltenen Ausmaß tobte, ist Anlass, die Saison 2018/2019 unter das Motto „Krieg und Frieden“ zu stellen. Trauer, Leid und Verlust, die Gräuel des Krieges haben unzählige Künstlerinnen und Künstler in ihren Werken verarbeitet.
Das Kriegsende steht noch ganz im Zeichen des entsetzten Rückblicks. Der Psalm 130 „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir“ drückt das Flehen um die Erlösung von den Qualen des Krieges aus. Sowohl der Deutsche schweizerischer Herkunft Joachim Raff (1822- 1882) als auch die Französin Lili Boulanger (1892-1918) haben sich dieses Textes angenommen (Raff: während preußisch-österreichischen Krieges 1866/67 – Boulanger während des Ersten Weltkriegs 1917). Thematisch weiter zuspitzend erklingt Lili Boulangers Elegie auf das Begräbnis eines Soldaten. Lili Boulangers Psalm 130 ist getragen von expressiven Gesten, die den einzelnen Instrumenten Raum zu individueller Gestaltung geben. Die Musik bäumt sich immer wieder auf, um schließlich in dem Aufschrei „Iafé“ (Gott) zu münden. Die Spannung der Dissonanzen löst sich nicht auf – ein eindringlicher Hilferuf.
Joachim Raffs Vertonung des Psalms 130 gehört zu seinen sehr selten aufgeführten Werken. Indem wir zwei Vertonungen desselben Textes durch einen Deutschen und eine Französin einander gegenüberstellen, die beide gleichermaßen als Entdeckungen gelten müssen, wollen wir die Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkriegs, der einen besonderen Höhepunkt der langen Feindschaft beider Länder darstellte, quasi gemeinsam begehen. Joachim Raff erlangte zu Lebzeiten Berühmtheit, nachdem er 1863 mit seiner ersten Symphonie ein Preisausschreiben der Gesellschaft für Musikfreunde gewann. Seine Sinfonien waren für eine Weile die meistgespielten Werke in Orchesterkonzerten. Trotzdem wurde er nach seinem Tod schnell vergessen, seine Musik erschien schon bald nicht mehr, vielleicht aufgrund seines sehr eigenen Stils, der vergleichsweise einfache Themen entwickelt und diese dann zwar äußerst kunstvoll, aber mit wenig klanglicher Avantgarde verarbeitet. Diese Kompositionsweise wurde bereits zu seinen Lebzeiten ambivalent diskutiert. Sein Psalm De profundis entstand 1867 und ist Franz Liszt gewidmet, der ihm Zeit seines Lebens in einer immer wieder schwierigen Beziehung verbunden war. Raffs ausgefeilte Kontrapunktik zeigt sich insbesondere in der Doppelfuge des letzten Satzes.